Wellen bei Yoff

Kurzgeschichte für den geplanten Band «Zum Meer»

Zwei Wochen nichts als Termine, Fahrten von Dakar nach Foundiougne im Süden, dort auf Pirogen zu Inseldörfern im vielufrig uferlosen Saloum, zurück in den Norden nach Dakar, Kayar, Dakar. Allein schon die Verschiebung innerhalb dieser Millionenstadt mit ihrer von den französischen Kolonisatoren übernommenen Zentralfunktion für das ganze Land, ja für halb Westafrika, allein schon eine Strecke von wenigen Kilometern kann Stunden kosten, die man in einer Blechkiste zweifelhafter Tauglichkeit verbringt, bei offenen Fenstern, so sie sich noch öffnen lassen und nicht absichtlich blockiert worden sind, weil sie sonst gleich aus der Fassung fallen, Fenster, durch welche nicht nur hin und wieder ein frischerer Luftzug vom nahen Meer her weht, sondern auch und vor allem die Abgase all der nicht minder zweifelhaften und im Stau vor sich hinröchelnden Blechkisten links und rechts und vorn und hinten; insbesondere eindrücklich füllt den Luftraum im der eigenen Kiste ein nebenan stehender Lastwagen, eine grosse schwarze Schwade aus seinem Auspuff stossend, wenn sein Fahrer wieder ein paar Meter vorziehen kann.

Zwei Wochen voller Besprechungen mit lokalen Kollegen, Aufwartungen bei Funktionären, Treffen mit Fischern und ihren Frauen, beobachtender Teilnahme an Fischereien, Begegnungen mit unzähligen und sehr verschiedenen Menschen. Augenblicke der Enttäuschung oder Verärgerung, oft nah bei Momenten freudigen Erstaunens und gelinder Hoffnung, und immer wieder Lachen, Lachen. Ça ira, tu vas voir, inchallah. Es wird schon gut, wenn Gott nur will. Aber Ihr müsst ihm helfen, Eurem Allah, er kann doch nicht alleine alles richten für die Abermillionen seiner Gläubigen! Lachen, c’est vrai, tu as raison, faut lui aider; doch anderntags ist es erneut Allah, der es nicht richten wollte, so ist das halt.

Zwei Wochen am Meer und nicht eine Stunde Urlaub. Vor dem Rückflug in der Nacht nehm ich mir den ganzen Nachmittag frei von allem, keine Treffen mehr, als wär ich schon abgereist. Mit Ruth im Sand am Strand von Yoff, den junge Senegalesen vom Unrat freihalten, jedenfalls innerhalb ihrer offiziell nicht wirklich erlaubten Claims, säuberlich abgesteckte, mit Leinen umzäunte und gelegentlich – wir werden eben Zeugen – gegen die Übergriffe strandloser Jungengruppen verteidigte Flächen, mit Sonnenschirmen aus Stroh bestückt, einer afrikanischen Karikatur der europäischen Karikatur von Negerhütten, und jeder Mensch, wirklich jeder ist unter einem dieser Schirme willkommen, kriegt eine aus Plastiktütenschnipseln geflochtene Matte, wird ein wenig Geld los für den Platz und erhält das Versprechen, für das Wohl der Gasts werde vollumfänglich gesorgt: Was wünschst Du denn? Kaffee? Sofort. Und später? Anstelle einer Karte kriegst Du eine Aufzählung: Fisch mit Reis, Huhn mit Reis, Lamm mit Reis, Papaya oder Mango je nach Saison. Gut, später, vielleicht.

Wir sitzen da mitten unter der Woche auf einem wenig bevölkerten Strand; am Wochenende zuvor war hier kaum mehr Sand zu sehen gewesen vor lauter Menschen, die aus Dakar hierher nach Yoff gekommen waren, um Ball zu spielen, dem Wasser entlang zu gehen oder einfach dabei zu sein. Jetzt tummeln sich hier nur einige unentwegte Körperertüchtiger, ein Volkssport unter jungen Senegalesen, die sich von uns nicht stören lassen, und ein paar unbeirrbare Strandverkäufer, die uns nicht stören können, da unsere Gastgeber sie sogleich verscheuchen. Motto: Das sind unsere Weissen, die nehmen wir aus, hau ab! Für den Preis eines bescheidenen Schutzgelds in der Form einer Bestellung hin und wieder werden wir angenehm in Ruhe gelassen, sogar dann, wenn wir dem armen Künstler tatsächlich eins seiner schönen Bilder abkaufen wollen.

Und wir staunen auf den kühlen Atlantik hinaus, in die Wellen, die von Norden her anbranden, eine um die andre, hoch, gleichmässig über die ganze Breite des Gesichtsfelds sich schäumend überschlagend, jede etwas anders, jede der andern gleich in endloser Wiederholung. Wir schauen, hören, staunen, werden satt und ruhig, versinken im Genuss der rauschend, gischtend und plätschernd zerrinnenden Zeit. Endlich Ruhe, endlich Zeit. Nichts. Alles.

Der fröhliche Frontjunge der kleinen Gastgebertruppe setzt sich neben uns und stellt sich so vor, als würde sein Name Élage geschrieben; als er mir auf meine Bitte seine Adresse auf ein Stück Karton kritzelt – meine Visitenkarte hat er sich schon erbettelt in der vagen Hoffnung, der Kontakt in der reichen Schweiz könnte ihm einmal nützlich sein –, langsam, in ungelenken Grossbuchstaben, als schriebe er nicht, sondern zeichne eine mühsam auswendig gelernte Abfolge von Strichen ohne innere Bedeutung, les ich den Namen, der einen Hadj auszeichnet, einen also, der nach Mekka gepilgert ist, oder wenigstens einer seiner Väter, Onkel, Söhne oder Neffen. El Hadj also erzählt ein wenig von sich selber: Schreiner habe er gelernt, selbständig machen möchte er sich, weil er dann richtige Arbeit hätte, doch es fehle ihm das Geld für die Werkzeuge, also halte er sich mit diesem Strandétablissement über Wasser; er wohne auch hier, da in der Ecke im Zelt neben der Küchenhütte, zusammen mit seinem copain: Viens voir, on est bien ici, wir schlafen wunderbar hier, die Nacht ist ruhig, nur das Meer und der Sternenhimmel. Wenn Du wiederkommst, komm zu mir, dann bauen wir für Dich und Deine Frau noch so ein Zelt, Du wirst sehen, schöner kannst Du’s hier nirgends haben!

Wie er denn leben könne von den paar wenigen Gästen? Oh, jetzt sei die Weihnachtssaison halt schon wieder vorüber, doch noch vor einer Woche habe er viele Touristen hier gehabt, vor allem Franzosen, ce sont mes amis! Warum denn ausgerechnet die Franzosen seine Freunde seien, frag ich ihn verwundert. El Hadj schaut mich nicht minder verwundert an, breitet die Arme weit aus und ruft: Mais ils nous ont co-lo-ni-sés! Mann, die haben uns doch kolonisiert, haben uns alles gebracht, was wir haben! Stumm denk ich mir, dass ich die Welt wohl immer noch nicht recht versteh und mir aus dem Mund eines Jungen, der weit schlechtere Perspektiven hat als ich und der sein bisschen Französisch auf der Strasse und nicht wie ich in der Schule und mit Nachhilfestunden gelernt hat, eine tiefere Wahrheit zuteil wird, ohne dass ich an ihr teilzuhaben vermag.

Ein Jahr später geh ich zum selben Strand, freu mich auf ein Wiedersehn, auf eine Plauderei mit El Hadj, finde den nämlichen claim in unveränderter Aufmachung, die gleiche Schilfpalisade als Abzäunung zur Stadt hin, die gleichen Strohhütten, bunten Matten, die gleiche Tafel, «Chicory, les pieds dans l’eau…», begrüsse zwei junge Männer, unsicher, ob die letztes Jahr auch schon hier waren, und frag nach El Hadj. Sie sagen, sie kennen keinen dieses Namens. Ich beschreib ihn; wieder Kopfschütteln, entschiedener diesmal: non, on connait pas! Aber er war doch hier vor einem Jahr, das war sein Platz, dort in jenem Zeit hat er die Nächte verbracht! Nein, Du musst Dich täuschen, wir waren schon immer hier! Plötzlich ein Stich, als hätt ich eben einen Freund verloren; verdammt, er hat sich wohl nicht wehren können, wurde weggespült von einer Welle anderer erwerbsloser Jugendlicher. Wohin? Zurück zu seinem Schreiner, der doch keine Arbeit für ihn hat? Konnte er sich Werkzeuge organisieren und selber anfangen? Ist er unter den vielen gelandet, die auf den Strassen der Stadt herumhängen, blind aus Mangel an Aussicht? Fand er Platz auf einer Piroge nach Europa, und was tut er dort, so er’s denn bis dorthin geschafft hat? Lebt er überhaupt?