Knapp vorm Rheinfall

Kurzgeschichte für den geplanten Band «Zum Meer»

Verlässt Du in Rotterdam die Küste landeinwärts und folgst dem Rhein südöstlich immer tiefer in den Kontinent hinein, an der Lorelei und am Basler Münster vorbei, gelangst Du kurz vor Schaffhausens Brücken zum Rheinfall. Hierhin wollte sie damals, auf Umwegen von Kyoto her kommend.

Ihr Mann, ein kleiner Grossstädter von fraglicher Konstitution, war an der landesüblichen Überdosis langtägiger Arbeit und abendlicher Kampftrinkerei mit Bürokollegen etwas früh gestorben. Nicht mehr ganz jung, aber noch lange nicht alt, kinderlos und nicht ganz ohne Mittel, hatte sie nach einer mehr als ziemlichen Frist der Trauer, des Vermissens und schliesslich des Bedauerns beschlossen, ihrer Einsamkeit für eine Weile zu entfliehen und die Städte im Ausland zu besuchen, in denen ihr Mann vor ihrer Zeit für den heimatlichen Konzern tätig gewesen war und von denen er ihr oft erzählt hatte. Sie war in

Heathrow gelandet, hatte sich drei Tage lang in London umgesehen, war dann nach Schiphol geflogen, hatte in Amsterdam mehrmals und hervorragend asiatisch gespeist, den Hafen von Rotterdam besichtigt und die Schifffahrt nach Köln genossen. Dort war sie vom Dom beeindruckt, vom Essen weniger; sie nahm den Zug bis Basel, besuchte dort etliche Museen, insbesondere zweimal die Ausstellung der Bilder Chaim Soutines, die sie derart in Bann schlugen, dass sie aus Furcht, in dieser Stadt hängenzubleiben, früher als geplant nach Zürich weiterreiste, wo es sie freilich der Hektik wegen nicht lange hielt, so wenig wie in Tokyo, wo sie nur selten gewesen war und nur so lange, wie es sich für eine Besorgung eben nicht hatte vermeiden lassen.

Ein Verwandter hatte ihr eine Liste von Sehenswürdigkeiten mitgegeben, darunter das wunderschön über Winterthur gelegene Museum am Römerholz mit seiner Sammlung alter Meister, der Rheinfall, der Bodensee oder die Stiftsbibliothek in St. Gallen. In dieser Reihenfolge legte sie sich die nächsten Etappen ihrer Reise zurecht. Nach dem Aufenthalt in Winterthur bestieg sie frühmorgens die farbenfrohe S-Bahn nach Schaffhausen; der Liste entnahm sie, dass sie kurz vor der Endstation aussteigen müsse, um auf einem Fussweg zur Aussichtsplattform auf den Rheinfall hinunter zu gelangen. Etwa eine Viertelstunde nach der Abfahrt fragte sie einen Mitreisenden: Lheinfall, please? und interpretierte dessen Antwort als: Next station. Sie stieg aus, entzifferte Dachsen an der Bahnhoftafel und suchte einen Weg bergab. Ein kleiner gelber Wegweiser schien ihr die passende Richtung anzuzeigen; tatsächlich gelangte sie, ein ausuferndes Konglomerat putziger Einfamilienhäuser hinter sich lassend, an den Rand einer waldkühlen kleinen Schlucht und folgte dem ihr entlang führenden Pfad, zwischen den Bäumen bald schon den Fluss in der Tiefe erahnend. Der Weg endete in einer kleinen strandbadähnlichen Anlage. Ein gemütlicher Mann, dessen Bauch ein mit Badmeister beschriftetes T-Shirt wölbte, lachte sie freundlich an, als sie ihn mit einem Lheinfall, please? begrüsste. Nou nou, not hier, öp seer, und er zeigte mit einem Nicken seines grau behaarten Kopfes vage flussaufwärts. Fah away? Er betrachtete ihre zierliche Figur und ihren hohen, prallen Rucksack. You cän wook seer, böt won ouer äbout, erklärte er lächelnd. Oh so fah? Als sie ihren Rucksack auf den Boden stellte, lud er sie ein, häv a koffi först, und wies auf einen Tisch unterm Sonnenschirm. Sie trank in kleinen Schlucken, thank you vely much.

Sie blieb sitzen. Die Sonne stieg zum Zenith, die Luft flirrte heiss, der Fluss zog träg und stetig dahin. Sie beobachtete den Zustrom der Badegäste, die ihren Platz mit Frotteetüchern absteckten, bevor sie sich am Kiosk um Eintrittskarten bemühten und sich eine Cola, ein Bier, eine Bratwurst gönnten. Der Badmeister und seine kleine Crew hatten bald alle Hände voll zu tun. Sie schaute zu, reimte sich dies und jenes zusammen, stand schliesslich auf und begann, mit Hand anzulegen. Sie räumte Abfall und leere Flaschen von den Tischen, leerte Aschenbecher, wusch Gläser, schnitt Brot auf und holte Getränke aus dem Kühlschrank, ein nicht endendes Lächeln in ihrem feinen Gesicht und ein thank you auf den Lippen, wenn ihr jemand von der Belegschaft einen hilfreichen Hinweis gab.

Als es Abend wurde, lud der Bademeister sie zu sich nachhause ein. Morgen werde man weitersehen. Ihre Figur war weniger zierlich, als er angenommen hatte. Sie blieb bis im Spätsommer, bis der Badebetrieb eingestellt wurde, und sogar noch ein paar Wochen länger. Dann folgte sie dem Rhein abwärts. Es standen noch so viele Orte auf ihrer Liste. Und eigentlich hatte sie eine längere Zeit am Meer verbringen wollen.